B. Studer u.a. (Hrsg.): Zwischen Aufsicht und Fürsorge

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Titel
Zwischen Aufsicht und Fürsorge. Geschichte der Bewährungshilfe im Kanton Bern


Herausgeber
Studer, Brigitte; Sonja, Matter
Erschienen
Bern 2011: Stämpfli Verlag
Anzahl Seiten
167 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Sabine Braunschweig, Büro für Sozialgeschichte S. Braunschweig Utengasse 47 CH-4058 Basel

Im 19. Jahrhundert setzten sich in vielen Kantonen religiös-philanthropische Organisationen für die Unterstützung von entlassenen Strafgefangenen ein. Im Kanton Bern war dies der 1839 gegründete Schutzaufsichtsverein. Mit Veränderungen im Strafvollzug wurde die gesetzliche Regelung notwendig. So erliess der Berner Grosse Rat im Februar 1911 das Dekret über die Schutzaufsicht.

Die Abteilung Bewährungshilfe und alternativer Strafvollzug (ABaS) des Kantons Bern nahm den 100. Jahrestag dieses Gesetzes zum Anlass, beim Historischen Institut der Universität Bern eine Untersuchung zur Geschichte der Bewährungshilfe anzuregen. Der Sammelband, den Brigitte Studer, Professorin für Schweizer und Neueste Allgemeine Geschichte, und Sonja Matter, Assistentin am Historischen Institut, herausgaben, umfasst elf Beiträge zu verschiedenen Aspekten. Eva Keller zeigt die Schwierigkeiten bei der Resozialisierung von entlassenen Sträflingen, die hohe Rückfallquote und das fehlende Interesse der Betroffenen an der Schutzaufsicht auf. Trotz mehrerer Anläufe war dem bernischen Schutzaufsichtsverein im 19. Jahrhundert längerfristig kein Erfolg beschieden. Einen Überblick über die gesetzgeberischen Regelungen der Schutzaufsicht auf Bundesebene und im Kanton Bern gibt Andrea Baechtold. Dabei wird deutlich, dass sich der Gesetzgeber im Wesentlichen von Veränderungen in der Praxis leiten liess und diese nachträglich legitimierte. Grundlegende Reformen nahmen die bernische Strafvollzugsverordnung 1986 und das revidierte eidgenössische Strafgesetzbuch erst 2002 auf. Unter dem Stichwort «wohltätiger Zwang» erläutert Urs Germann den bedingten Straferlass und die amtliche Schutzaufsicht an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Fürsorgerische Massnahmen, aber auch subtilere Formen der Überwachung lösten repressive Sanktionen ab und zielten auf eine stärkere Individualisierung des Strafvollzugs. Nachdem das freiwillige Schutzaufsichtskomitee nach dem Ersten Weltkrieg aufgelöst worden war, erhielt die amtliche Schutzaufsicht zur Entlastung zwei neue Stellen, die aber nicht über höhere Staatsausgaben finanziert wurden, sondern über private Gelder, die ein neuer von der Verwaltung initiierter Schutzaufsichtsverein akquirierte, wie Markus Hochuli untersucht hat. Im Fokus des Beitrags von Anja Suter steht die vom Berner Polizeidirektor 1890 ernannte Patronatskommission, die sich um die Insassinnen der Strafanstalt Hindelbank kümmerte. Dabei gehörte der Kampf gegen Prostitution, Mädchenhandel und die Verbreitung «unsittlicher» Literatur ebenso zum Tätigkeitsfeld wie der Schutz der Kinder von weiblichen Häftlingen. Auf der Grundlage des eidgenössischen Strafgesetzbuches, das 1942 in Kraft trat, wurde die ehrenamtlich tätige Patronatskommission aufgelöst und die Anstaltsarbeit professionalisiert.

Tanja Rietmann zeigt auf, dass nicht nur Kriminelle der Schutzaufsicht unterstanden, sondern auch administrativ Versorgte, die nicht straffällig geworden waren, sondern gesellschaftlichen Ordnungs- und Normalitätsvorstellungen nicht entsprachen. Damit erhielt die administrative Versorgung einen strafrechtlichen Einschlag, was durch den gemeinsamen Vollzug in den gleichen Einrichtungen verstärkt wurde. Diese Verwischung der Grenzen zwischen strafrechtlich sanktionierter Tat und «ungeordneter Lebensführung» stellte Eliane Forster auch bei den Fürsorgerinnen fest, die in den 1960er Jahren ihren Fokus zunehmend auf die Lebensgestaltung der KlientInnen richteten. In seinem zweiten Beitrag analysiert Urs Germann die Normierungsprozesse und damit verknüpft die unterschiedlichen geschlechtsspezifischen Erwartungen der FürsorgerInnen an die betreuten Männer und Frauen.

Kontrolle und Bevormundung standen lange im Zentrum der Arbeit des Berner Schutzaufsichtsamtes. Erst die gesellschaftskritische Haltung der 68er- Bewegung bewirkte einen Paradigmenwechsel, der sich schliesslich 1993 in der Umbenennung von Schutzaufsicht in Bewährungshilfe ausdrückte, wie Ismael Albertin erläutert.

Drei ExponentInnen, die die Bewährungshilfe des Kantons Bern in den vergangenen Jahren wesentlich mitgeprägt haben, sprechen mit Sonja Matter über neueste Entwicklungen und Veränderungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Während noch vor wenigen Jahren die soziale Integration über die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt angestrebt wurde, liegt heute das Gewicht auf der Persönlichkeitsförderung. Aufgrund der erschwerten wirtschaftlichen Situation platziert die Bewährungshilfe ihre Klientel vermehrt in Beschäftigungsprogrammen. Nach dem revidierten Strafgesetzbuch von 2007 ist ein zweites Ziel die Rückfallvermeidung. Der neue gesetzliche Auftrag der Bewährungshilfe besteht darin, die KlientInnen bei der Tataufarbeitung und Wiedergutmachung zu unterstützen, was eine grosse Herausforderung darstellt. Wie weit sich der Straffällige darauf einlassen kann, variiert von Einzelfall zu Einzelfall.

Die gesellschaftliche Integration ist heute durch die plakative Berichterstattung der Boulevardmedien schwieriger geworden. Dass sich diese bei Strafgefangenen ohne Schweizer Pass verschärft, zeigt Christin Achermann in ihrem Beitrag, der auf ein vom Schweizerischen Nationalfonds finanziertes Forschungsprojekt zurückgeht.

Wie bereits der Titel des Sammelbandes «Zwischen Aufsicht und Fürsorge» deutlich macht, thematisieren verschiedene Beiträge das Spannungsfeld von Kontrolle und Betreuung. Weitere strittige Fragen betreffen die Zusammenarbeit respektive die Rivalität zwischen privaten und staatlichen Akteuren.

Die gut lesbare Publikation richtet sich an Personen, die in der Bewährungshilfe und im Strafvollzug tätig sind, an Historiker und Juristinnen sowie an Betroffene und politisch Interessierte. Sie gibt einen übersichtlichen Einblick in die Entwicklung der Schutzaufsicht und der heutigen Bewährungshilfe. Um die Situation im Kanton Bern mit weiteren Kantonen vergleichen zu können, sind weitere solche Studien wünschenswert.

Zitierweise:
Sabine Braunschweig: Rezension zu: Brigitte Studer, Sonja Matter, Zwischen Aufsicht und Fürsorge. Die Geschichte der Bewährungshilfe im Kanton Bern, Bern: Stämpfli Verlag, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 1, 2016, S. 178-180.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 1, 2016, S. 178-180.

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